Sie keuchen neben dir her, paarweise oder allein, die einen munter plaudernd, die anderen mit mühsam auf dem Boden entlangschleifenden Augen. Sie alle folgen einem unsichtbaren Sog, einem inneren Drang. Einer Uhr, auf der sie im Minutentakt schauen. Du kennst diesen Sog, diesen Drang, diese Uhr. Manchmal suchst du den Blick eines Nachbarn und willst darin das Warum erkennen. Spätestens dann, wenn sich deine Beine wie Blei anfühlen und sich eine Frage in die Gehirnwindungen hämmert: Warum mache ich das hier?
Marathon – oder: Der Weg ist das Ziel…
Es gibt diese Momente, in denen du dich uralt fühlst. Würdest du jetzt in den Spiegel schauen, dann fiele dein Blick auf eine verhutzelte Gestalt mit gebeugtem Rücken, die sich im Zeitlupentempo dem Ziel entgegenschleppt. In deinen Träumen hast du dich als Sieger gesehen. Mit lockerem Schritt, leicht wie eine Feder, schwebtest du ins Ziel – strahlend.
Bleischwere Beine
In Wirklichkeit bist du am Ende. Mit bleischweren Beinen, schleifendem Gang. Kaputt. Wenn du beschreiben solltest, was dir wehtut, würdest du darum bitten, sagen zu dürfen, was dir nicht wehtut. Und auch da hättest du Mühe.
Marathon klingt leichter als 42 Kilometer
Langsam wirst du zur Rechenmaschine, die die im Schneckentempo vorbeischleichenden Kilometeranzeigen aufrechnet und dann mit den Fingern die noch fehlenden auszählt. Marathon – das klingt leichter als die 42 Kilometer, die in diesem Wort stecken. 42.000 Schritte – eine Ewigkeit. Vor allem dann, wenn man 30 Kilometer in den Beinen und noch zwölf vor sich hat.
Jeder wird bejubelt
Die Menschen am Straßenrand lassen sich von Zahlen nicht beirren. Schon seit dem frühen Morgen harren sie aus, klatschen und jubeln, bis die Hände rot und die Stimmbänder rau sind – bereit, die Läufer ins Ziel zu jubeln, unermüdlich, ohne Unterschied, ob es der Spitzenläufer ist oder der, hinter dem geduldig der Besenwagen herfährt.
Warum du läufst? Du hast es längst vergessen, hier, bei Kilometer 35. Welcher denkende Mensch rennt schon freiwillig 42 Kilometer?
Mit einem Adrenalinstoß ins Ziel
Und dann ist er da, jener magische Moment, in dem die „3“ an der Kilometeranzeige der „4“ weicht. Du spürst den Adrenalinstoß, auf den du so lange gewartet hast. Diesen Moment, an dem plötzlich alles ganz leicht wird und sich ein Gefühl in dir breit macht, das du nicht erklären und nur genießen kannst. Du guckst dich um und siehst in gerötete Gesichter. Rufe verschwimmen in einem gewaltigen Jubelsturm. Noch 2,195 Kilometer – für diese Strecke ziehst du dir normalerweise nicht einmal die Laufschuhe an.
Meter für Meter nach vorn
Deine Beine lösen sich von dem Betonblock, den du kilometerweit mit dir geschleppt hast, es treibt dich voran. Die Rufe tragen dich wie eine Sänfte Meter für Meter nach vorn. Und dann ist es da, dieses ersehnte Wort. „Ziel“ steht da in der Ferne, du kannst es sehen, ohne die Augen zusammenzukneifen.
Das ist es, was dich laufen lässt
Und plötzlich bist du angekommen, stoppst. Verwundert, dass es tatsächlich vorbei ist, du hättest noch weitermachen können, jetzt, wo du in deinen Beinen nach den 42 Kilometern suchst, die sie bewältigt haben. Du lässt dich hineinfallen in deinen Stolz wie in ein dickes Kissen und genießt in den nächsten Tagen deinen Muskelkater, diese Trophäe, die du dir errungen hast. Und plötzlich fällt es dir wieder ein: Dieses Gefühl ist es, das dich laufen lässt.
Und das dich immer wieder dazu bringt, zum Stift zu greifen und die Anmeldung auszufüllen.
Für den nächsten Marathon.
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